Yannicks Blog

Tag 12 - Die Ankunft im Dorf

Nov 102018

Ich habe gerade enorme Schwierigkeiten, einen Anfang für diesen Tag zu finden, denn es war womöglich der aufregendste neben dem meiner Geburt. Meine Gedanken sind überall, mein Herz ebenso gebrochen, wie erfüllt mit Liebe. Die Eindrücke, die ich heute im Dorf machen durfte, sind schwer in Worte zu fassen, aber ich werde mich sammeln und es versuchen. Beginnen wir chronologisch.

Mittlerweile habe ich für mich die „afrikanische Stunde“ eingeführt, denn das ist die Zeit, die der durchschnittliche Afrikaner mindestens zu spät kommt. Damit kann man immer rechnen und verinnerlicht man diese, macht sie einem das Leben hier um einiges angenehmer. Der Plan war, heute Morgen um 8:00Uhr aufzubrechen. Ich stand also um Punkt 8:00Uhr auf, duschte in Ruhe, machte mir Frühstück und siehe da, kurz nach 9:00Uhr stand Chimezie hier und holte mich ab. Die afrikanische Stunde funktioniert einfach.

Um ins Dorf zu gelangen, brauchten wir zwei Taxis und eine gute Stunde Fahrtzeit. Die Aufregung versuchte ich mit dem Genuss des Ausblicks über den Busch zu unterdrücken, was aber nur bedingt funktionierte. Sie hatte sich über die letzten Tage und sogar Wochen immer weiter aufgebaut, denn jeder in meinem Umfeld redete auf mich ein und versuchte mir zu erklären, was mich erwarten würde. Der einzige, der nie ein Wort darüber verlor, war Chemi, denn der sagte immer nur „you will use your own eyes to witness“ (in etwa: du wirst es mit eigenen Augen sehen). Ich ging dennoch verschiedene Szenarien in meinem Kopf durch und zwischendurch fragte ich mich auch, ob ich denn überhaupt mit dem umgehen könne, was mich erwartet. In der Regel fing ich mich aber schnell und blockte jegliche solcher Fragen selbst ab mit „oohhhh armes 1. Welt Kind, kann die Armut anderer wohl nicht ertragen“.

Mitten auf der Schnellstraße zogen wir bei 100 Sachen plötzlich in den Gegenverkehr, machten für etwa einen Kilometer den Geisterfahrer und bogen links in einen Feldweg ein – die Tatsache, dass mich das kaum tangierte, zeigt schon, wie sehr ich mich bereits an den Verkehr gewöhnt habe. Das war es also, Awo-Omamma, Geburtsort unserer Filicia aus Borghorst, der Ursprung unseres Projekts. Bevor wir zum Projekt fuhren, machten wir einen kleinen Zwischenstopp bei Chimezies Elternhaus. Dass der Unterschied zur Stadt so gewaltig ist, hätte ich im Leben nicht gedacht. Ich stieg aus dem Taxi und merkte gleich, dass niemand seinen Augen trauen wollte. Während ich Chimes Mutter kennenlernte und eine Führung durchs Haus bekam, merkte ich, dass sich vor der Tür immer mehr Menschen versammelten. Als ich das Haus wieder verließ, standen ca. 30 Kinder aus unmittelbarer Nachbarschaft mit verdutzten Augen vor mir. Als ich einen Schritt auf sie zu machte, wichen einige drei Schritte zurück, andere fingen sogar an zu weinen. Die Situation forderte jemanden, der den ersten Schritt machte. Dieser erfolgte von einem kleinen Jungen, der so gerade laufen konnte. Er kam auf mich zu, ich ging auf die Knie und er stolperte mir in die Arme. Somit war das Eis gebrochen und die gesamte Meute rannte auf mich zu und sprang mir wortwörtlich in die Arme. In kurzer Zeit sprach sich die Ankunft des Onyeocha schnell rum und es kamen immer mehr Kinder. Gott, so viele Kinder! Die Leute hier müssen den ganzen Tag nichts anderen machen, als Kinder zu zeugen. Bevor ich jeden begrüßen konnte, machten wir uns aber auch schon wieder auf, um endlich zum Projekt zu gelangen. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich von drei Wachmännern begleitet, die dafür Sorgen sollten, dass keine komischen Dinge passieren.

Chimezies Elternhaus:

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Wir fuhren einen weiteren Feldweg hinunter und eine ganz Zeit war links und rechts nichts weiter zu sehen, als Busch. Dann schaute ich nach rechts und da war es, dieses unglaublich imposante Haus, was ich sonst nur von Bildern kannte. Ich stieg aus dem Auto und erneut kam eine riesen Meute von Kindern auf mich zu gerannt. Anders, als bei denen zuvor, wurde ich von diesen praktisch überrannt, bis ich auf dem Boden lag und alle auf mich drauflagen. Jedes der ca. 20-25 Kinder wollte meine Haut berühren und würde nicht mehr von meiner Seite weichen. Nach und nach lernte ich dann die größeren Kinder, die Muttis und schließlich auch die Arbeiter kennen, die zurzeit fleißig an der Mauer arbeiten, die das Anwesen umranden soll. Viele der Kinder sind Waisen, die meisten der Frauen Witwen. Ich bekam zunächst eine Führung über das Gelände und ich besichtigte stolz Brunnen, Generator, Küche und natürlich das Haupthaus. Während der gesamten Zeit konnte ich mich kaum fortbewegen, da die Kinder immer noch an mir hingen. Auf dem Weg flüsterten sie mir zu „kannst du mir Fußballschuhe besorgen?“, „ich möchte gerne Fahrrad fahren“ oder „nimmst du mich mit nach Europa?“. Es dauerte nicht lange, da wurde aus der anfänglichen Euphorie knallharte Realität und ich bemerkte, in welch unfassbarer Armut die Menschen dort leben. Es fühlte sich noch mal ganz anders an, als Lagos oder Owerri, denn auch, wenn ich es nicht für möglich gehalten hätte, haben die Leute dort noch mal weniger, was dann wohl nichts wäre. Ich schluckte ein paar Mal heftig und setzte mein Lächeln wieder auf, denn die Stimmung war phänomenal.

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undefined Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus und nachdem ich alle für die gute Arbeit beglückwünschte, verteilte ich ein paar Geschenke an die Kids. Jeder bekam Stifte und ein Heft. Das klingt erstmal nicht nach viel, bedeutete für die Kleinen aber die Welt. Zudem landeten wir dort mit riesigen Mengen an Essen sowohl für heute, als auch für die nächsten Wochen. Es wurden Interviews geführt, Hände geschüttelt und Fotos geschossen. Filicia engagierte zuvor extra eine Fotografin, die alles permanent mit Foto- und Videokamera begleitete (das Material werde auch ich bekommen und bei Bedarf kann ich es an euch weiterleiten). Währenddessen hatten ein paar der Frauen ein Buffet der Extraklasse aufgebaut, welches kurze Zeit später auch eröffnet wurde. Die ausgehungerten Kinder konnten es kaum erwarten und wir einigten uns darauf, dass diese sich zuerst den Magen vollschlagen durften. Da eh genug für alle da war, war das kein Problem.

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Nach dem Essen versuchte ich, mit jedem der Anwesenden zumindest ein kurzes Gespräch geführt zu haben. Jeder hatte extrem viel Liebe für mich über und hieß mich willkommen. Ein paar komische Situationen waren auch dabei, als Personen mich fragten, ob ich für sie nicht auch was dabei hätte, etwa ein Geschenk oder gar ein bisschen Geld. Ich musste ihnen also irgendwie klar machen, dass ich nicht auf jedes individuelle Bedürfnis einzeln eingehen kann. Das Projekt betreut nur eine bestimmte Anzahl von Personen und da heute eine Art „Tag der offenen Tür“ war, war diese natürlich um ein Vielfaches höher. Sie verstanden, dass ich nicht für ganz Nigeria sorgen kann, waren insgeheim aber wohl etwas enttäuscht, dass die Deutschen nur so einen armen Schlucker von Studenten schickten und der große Geldregen des weißen Mannes ausblieb. Mir selbst tat es unendlich leid, dass einige auf der Strecke blieben, aber das gehört wohl leider dazu. Es sind einfach zu viele.

Nach einer langen Verabschiedungstour schnappten wir uns die Wachmänner, die eigentlich nicht viel zu tun hatten und die Zeit damit verbrachten, sich das ein oder andere Bierchen zu trinken, und machten uns auf den Heimweg. Auf diesem lag das Imo-State Community Hospital und da die Frau von einem der Wachmänner kürzlich per Kaiserschnitt seine Tochter zur Welt brachte, statteten wir denen noch einen kleinen Besuch ab. Das noch mitzunehmen war natürlich wieder mal ein wahnsinniges Erlebnis und verdeutlichte mir erneut, wie nah ich hier an dem Leben der Leute bin und wie sehr mich die Leute in ihren Kreisen akzeptieren.

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Nachdem ich also allen gratulierte fuhren wir schließlich los. Noch im Auto versuchte ich den Tag zu reflektieren, scheiterte aber schon bei den Ansätzen und auch jetzt, nachdem ich all das geschrieben habe, komme ich immer noch nicht ganz darauf klar. Ich habe vieles ausgelassen, weil das hier erstens alles nicht ganz so theatralisch klingen soll und ich zweitens keinen Roman schreiben möchte.

Ich habe heute eine Menge Elend gesehen, kann aber jetzt beruhigt schlafen, wo ich doch im Internetradio so höre, wie Trump und Macron Milliardensummen für NATO und eine „europäische Armee“ (What the fuck?) verpulvern wollen. Na immerhin hat Dortmund gewonnen.