Yannicks Blog

Tage 19 & 20

Nov 182018

Ob ich Heimweh habe? Diese Frage würde ich mit einem klaren „Nein“ beantworten. Dafür bin ich und war ich auch nie der Typ, eher im Gegenteil. Ich gebe zu, dass ich mich nicht gänzlich von gewissen Entzugserscheinungen der Zivilisation freisprechen kann, aber um diese zu befriedigen, muss ich nicht in Deutschland sein. Natürlich vermisse ich Familie, Freunde und Freundin, bin aber stets dazu imstande dieses Gefühl unterzuordnen, wenn es um persönliche Entfaltung und Interessen geht. Ich bin ein optimistischer Mensch und bin zu jeder Zeit davon überzeugt, meine Geliebten wiederzusehen, wenn die Zeit gekommen ist und ich sagen kann, dass ich meine gesteckten Ziele erreicht habe. Also nein, kein Heimweh, denn ganz so viel hat mein Heimatland mir dann doch nicht zu bieten.

Nun will ich euch von meinem genialen Wochenende erzählen, denn Leute, seit gestern kann ich behaupten, Waisenkindern in Nigeria Unterricht gegeben zu haben!!! Ich schlucke meine Euphorie mal eben runter und berichte möglichst neutral. Am Anfang der Woche ließen wir verheißen, dass wir am Samstag um 9:00Uhr mit dem Unterricht beginnen wollen. Was keiner wusste: ich wollte erst um 10:00Uhr beginnen, beachtete aber natürlich die afrikanische Stunde und somit trafen alle pünktlich um 10:00Uhr ein – haha genatzt! Zu meiner Zufriedenheit konnte ich feststellen, dass sowohl der Raum von Müll und Bauschutt befreit war, als auch unsere zuvor bestellten Tische und Bänke fertig waren. Wir holten diese also ab, richteten uns das Klassenzimmer ein und ich trug alle zur Verfügung stehenden Lehrmaterialien zusammen. Am Morgen hatte ich noch schnell ein Dutzend Hefte für die Kids gekauft, als sich der Raum jedoch mit drei Dutzend Kindern füllte, traute ich meinen Augen kaum und wurde leicht nervös. Ich hatte mir die ganze Woche über Gedanken darum gemacht, wie ich mich auf das Ungewisse vorbereiten könne. Da ich aber mittlerweile gelernt habe, dass man sich hier auf nichts Vorbereiten kann, weil eh immer alles anders kommt, traf ich die Entscheidung, das zu tun, was ich am besten kann: improvisieren. Dies sollte sich bewahrheiten.

Knapp 40 Kinder, schreiende Babys, diskutierende Erwachsende .. mir ging bereits nach ca. einer Minute alles tierisch auf die Nerven, ich pfiff laut und ergriff das Wort. Zuerst schmiss ich alles aus dem Raum, was noch nicht oder nicht mehr zur Schule geht. Meine Schüler waren plötzlich still, erhoben sich und wünschten mir im Chor einen guten Morgen. Ich ließ es mir natürlich nicht anmerken, aber ich war extrem überrascht, dass das tatsächlich so einfach klappte. Es blieben also drei Lehrer, meine Wenigkeit und zwei Frauen, die mir auch in Zukunft beim Übersetzen helfen, und 34 Schüler. Der erste Tag sollte dazu bestimmt sein, sich kennenzulernen und das Niveau der Kids einzuschätzen. Nach einigen Spielen und Übungen zum englischen Alphabet und dem Einmaleins bemerkte ich schnell, dass ich es mit einer sehr heterogenen Gruppe zu tun habe, was nicht nur an den Altersunterschieden lag, sondern vielmehr an gravierenden Leistungsdifferenzen einiger bildungsferner Kinder. Von 10:00-12:00Uhr und 13:00-15:00Uhr machten wir also in insgesamt vier Stunden zwei, den Umständen entsprechend, sehr produktive Einheiten. Danach gab es Essen, ein kleines Fußballspiel mit den Kids und eine gepflegte Runde afrikanisches Mau-mau mit den Älteren. Gegen 17:00Uhr traten wir die Heimreise nach Owerri an und ich war fix und alle.

Noch am gleichen Abend wollte ich mir ein Modell einfallen lassen, was die Sache für alle Beteiligten weitaus angenehmer machen sollte. Der erste Schritt muss natürlich die Heterogenität abfangen, also informierte ich alle darüber, dass wir die Klasse ab jetzt spalten. Das nigerianische Bildungssystem orientiert sich an dem 6-3-3-4-System (Primary, Junior Secondary, Senior Secondary und University). Die meisten der Kids sind in der Primary School (Grundschule), die ältesten erst in der zweiten Stufe der Junior Secondary School (etwa wie die Orientierungsstufen 5, 6 und 7 der Sekundarstufe 1). Ich teile also einfach in der Mitte, was bedeutet, dass es nächsten Samstag eine Einheit von 10:00-12:00Uhr für die Stufen 1-4 und eine von 12:00-15Uhr für die Stufen 5-8 geben wird. Ab der Woche danach wird es eine tägliche Hausaufgabenbetreuung von 14:00-15:00Uhr für Schüler der Primary School geben, da diese bereits um 13:00Uhr Schulschluss haben. Die Secondary School geht bis 16:00Uhr, hier kann jede/r selbst entscheiden, ob sie oder er auch unter der Woche meine Hilfe in Anspruch nehmen möchte. Grundsätzlich stehe ich aber jedem zu jeder Zeit zur Verfügung.

So ist der Plan. Ob’s funktioniert, bleibt abzuwarten. Es sollte das Ganze aber um einiges stressfreier machen.

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Heute sollte es mich über die Grenzen des Imo State hinaus nach Anambra State, in das kleine Dorf Ihiala, führen. Hier betrat ich, Yannick Lux, überzeugter Atheist seit dem Austritt aus dem Religionsunterricht in der 8. Klasse, tatsächlich die heiligen Hallen der Christen in Form der unfassbar beeindruckenden Kirche des Reverant Malachy, guter Freund von Filicia & Familie. Versteht mich nicht falsch, ich hege sowohl Toleranz und Respekt gegenüber der Religion und dem Glauben eines jeden, als auch geradezu Bewunderung für die unglaubliche Stärke, die es Menschen verleihen kann. Ich beziehe meine Stärken allerdings aus anderen Dingen und kann mich mit dem Übernatürlichen nicht identifizieren. In unserer Welt ist das ganz normal, da es uns gut geht. Die Entchristlichung in westlichen Ländern ist damit in meinen Augen einfach erklärt. Hier ist das etwas anders. Für viele Menschen ist das Festhalten an einen Gott das Einzige, was sie überleben lässt, wenn es nichts anderes mehr gibt, was ihnen sonst Halt geben könnte.

Genug dazu, lasst mich euch meinen Tag schildern. Wir, Chimezie, ein Freund, der uns netterweise für Wenig Geld fuhr und ich, betraten also diese riesige Kirche. Gleich fiel mir auf, dass es das absolute Gegenteil einer deutschen Kirche darstellte. Alles war bunt und laut. Es wurde zusammen gesungen und gelacht. Zwischen den imposanten Predigten begleitete eine Band mit Gitarre, Bass und Schlagzeug den Kirchenchor, der nicht etwa mittelalterliche, monotone Gesänge von sich gab, sondern mit modernen Adaptionen zu unterhalten wusste. Wir setzten uns in eine der hinteren Reihen und es dauerte ca. eine Minute, bis die stille Post auch die vorderste Reihe, die ca. 30m vor unserer lag, dazu brachte, sich zu mir umzudrehen. Zunächst war alles gut, denn ich ging weder in Flammen auf, noch hatte ich Schwierigkeiten, dass Wort „Amen“ auszusprechen, um mich nicht sofort als Ungläubigen zu outen. Nach 1 ½ Stunden war der Gottesdienst vorbei und ich muss zugeben, dass ich froh darüber bin, diese interessante Erfahrung gemacht haben zu dürfen.

Dann wurde mir das Privileg zuteil, den Reverant in das Wohnhaus zu begleiten. Es war ein sehr prunkvolles und das mit Abstand modernste Anwesen, in dem ich hier bis jetzt zu Gast sein durfte. Sir Malachy, der hier mit fünf weiteren Priestern wohnt, ist insgesamt ein etwas abgehobener, aber überaus gastfreundlicher und hilfsbereiter Typ. Wir unterhielten uns bei einem Guiness, um 12:00Uhr mittags wohlgemerkt, über das Projekt, Schulsysteme und einige Städte Deutschlands, die er selbst bereits bereist hatte. Er machte mir sogar das Angebot, in Nigeria zu bleiben und als Lehrer für gutes Geld in der Secondary School der Kirche zu arbeiten, aber immer mit der Ruhe! Nach etwa zwei Stunden überreichte ich ihm noch einen kleinen Präsentkorb, wir tauschten Nummern aus und ich wurde zu zahlreichen Events eingeladen. Gestaltet die Kirche in Deutschland so und ihr würdet euch wundern, wie sich auch dort die christlichen Hallen wieder füllen würden!

Ein wirklich sehr interessanter Tag und insgesamt ein geiles Wochenende!

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