Yannicks Blog

Tag 60

Dec 312018

Es neigt sich nun also alles dem Ende zu. Wenn man bedenkt, dass ich vor gar nicht allzu langer Zeit noch enttäuscht die nigerianische Botschaft in Berlin ohne Visum verlassen musste, wird einem die Relativität der Zeit erst so richtig bewusst. Ein Fazit mag ich mir immer noch nicht zumuten. Ich werde den ganzen nächsten Monat genug Zeit haben, alles ein wenig sacken zu lassen und mit der Reflexion zu beginnen.

Die letzten Tage waren unterm Strich recht entspannt. Ich hatte mich dazu entschieden, das Hotel zu verlassen und einmal mehr so richtig tief in das Leben der indigenen Bevölkerung einzutauchen, womöglich tiefer denn je. Die letzten vier Nächte, bevor ich den Flug gen Lagos antrete, verbringe ich nämlich in Chimezies Elternhaus. Es ist eine sehr kleine, bescheidene Hütte, die aus vier gleichgroßen Zimmern besteht, die wiederum durch einen Flur in der Mitte getrennt sind. Chime lebt hier mit seinen beiden jüngeren Brüdern, seiner jüngeren Schwester und der Mutter. Wenn die ganze Familie gleichzeitig nach Hause kommt, teilt man sich hier gerne mal zu dritt oder viert einen kleinen Raum. Die Küche ist eine kleine Blechhütte mit Feuerstelle im Garten und die Toilette eine Art Plumsklo am hintersten Ende des Grundstücks. Die „Dusche“ ist lediglich ein durch vier Mauern abgesteckter Raum im Freien, in dem man sich, mit einem Eimer Wasser bewaffnet, begibt und wäscht. Es ist aber Vorsicht geboten, denn man teilt sich diese mit einer Henne, die gerade ihre Eier ausbrütet. Oma, ich kann die Geschichten aus deiner Jugend nun auf jeden Fall besser nachvollziehen!

Die Familie ist in der Gemeinde sehr gut eingebunden und genießt ein hohes Ansehen. Das führt dazu, dass man hier wirklich gar nicht belästigt wird und man weitestgehend seine Ruhe hat. Es kommt natürlich immer noch vor, dass ich plötzlich von einer Meute von Kindern umgeben bin, wenn ich im Garten meinen Kaffee trinke, aber das ist nun mal eine Begleiterscheinung, an der sich nie etwas ändern wird; meistens genieße ich es ja auch nach wie vor. Ich muss allerdings eingestehen, dass ich emotional mittlerweile ein wenig abgeflacht bin. Das bedeutet, dass ich den Leuten lange nicht mehr so euphorisch, wie noch am Anfang, begegne. Es fällt mir immer schwerer, ein Lächeln für die Kids aufzubringen und meine Späßchen mit ihnen zu machen. Ich merke einfach, dass ich am Ende meiner Kräfte angelangt bin und nichts mehr zu geben habe. Das tut mir teilweise sehr leid, aber ändern kann ich daran zurzeit nicht wirklich etwas. Ich werde die Batterie wieder aufladen, um bei meiner nächsten Reise nach Nigeria die nötige Energie, Motivation und Euphorie wieder aufbringen zu können.

Heute habe ich mich allerdings nochmal gesammelt, um ein letztes Mal zum Waisenhaus zu fahren. Ich wollte ein letztes Mal mit allen reden und sicherstellen, dass die Weichen für die nächsten Monate richtig gestellt sind. Außerdem führte ich ein Interview mit einer Lehrerin, die das Projekt nach meiner Abreise zusammen mit meiner Assistenzlehrerin weiterführen möchte. Sie klang recht überzeugend und wir werden sie wahrscheinlich anheuern. Starten werden wir mit den Samstagen und zwar so, wie ich es die letzten zwei Monate auch gehalten habe. Wichtig dabei ist mir Disziplin im Unterricht, Pünktlichkeit, Sauberkeit und Zusammenhalt, was ich mehrmals betont habe. Ich denke aber, dass wir da auf einer Wellenlänge schwimmen. Wie es sich dann letztlich entwickelt, bleibt abzuwarten. Ich habe die Leute während eines Ausnahmezustandes, nämlich meine Anwesenheit, kennengelernt. Wie weit dieser vom Normalzustand abweicht, ist für mich nur schwer einzuschätzen. Dennoch bin ich davon überzeugt, die wichtigsten Charakterzüge aller Beteiligten herausgefiltert zu haben, um zu wissen, auf wen man in Zukunft möglicherweise bauen kann und an wen unsere Ressourcen verschwendet wären.

Nach den vielen Gesprächen habe ich einem Jungen noch individuellen Gitarrenunterricht gegeben. Diesem werde ich auch die Gitarre hinterlassen, die ich übrigens gestern reparieren konnte. Ich wollte sicherstellen, dass er für sich eine autodidaktische Herangehensweise entwickeln kann, mit der er auch ohne Lehrer Fortschritte erzielen kann. Da ich es selbst auf diese Weise gelernt habe, konnte ich ihm ganz nützliche Ratschläge geben. Seine offensichtliche Liebe zur Musik stimmt mich sehr optimistisch. Danach verabschiedete ich mich von den Anwesenden, machte aber keine große Szene draus. Wir fanden einen produktiven Abschluss und ich wollte es dabei belassen.

Morgen ist Silvester. Ich weiß noch nicht wirklich, was mich erwartet, aber ich lass mich einfach mal überraschen. Ich erzähle euch davon im nächsten Eintrag, bei dem ich bereits wieder in Lagos sein werde. Dieser wird dann tatsächlich auch der letzte sein. Ich merke natürlich selbst, dass die Qualität meiner Einträge mehr und mehr abnimmt, also werde ich es nicht überstrapazieren und eine runde Sache daraus machen.

Jetzt wünsche ich euch erstmal einen guten Rutsch ins neue Jahr. Feiert schön und bleibt gesund!