Yannicks Blog

Tag 64: Der letzte Beitrag

Jan 032019

Willkommen zum letzten Beitrag meines Blogs. Ich habe mir lange Gedanken darüber gemacht, wie ich diesen gestalten soll, nur, um zu dem Ergebnis zu kommen, nichts Besonderes daraus zu machen und wie sonst auch einfach drauf los zu schreiben. Das war bei den vorherigen 29 Einträgen immerhin auch mein Erfolgsrezept.

Bevor ich also den Abschluss finde, erzähle ich euch noch ein wenig von Silvester. Durch die Erzählungen von den Leuten im Dorf wurden meine Erwartungen extrem hochgeschraubt, tatsächlich war der Abend aber einfach nur kurios. Ich war zunächst den ganzen Tag über mit Ifeany, einem aus Abuja angereisten Bruder von Chimezie, unterwegs. Er ist ein recht erfolgreicher Geschäftsmann, lässt dies aber auch alle anderen gerne wissen und wollte mir gegenüber natürlich auch ein wenig den Draufgänger raushängen lassen. In seinem aufgemotztem Benz machten wir uns auf den Weg, um ein paar seiner einflussreichsten Freunde zu besuchen. Ich fand mich dabei wieder, wie ich mit Millionären auf dem Dach einer Villa Whiskey schlürfte und mit Senatoren das Abendessen teilte. Allein meine Hautfarbe ist meine Eintrittskarte. Dass ich in Deutschland nur ein popeliger Student bin, interessiert dabei niemanden.

Als wir gegen 9Uhr zurück im Dorf waren, begaben wir uns in den kleinen Kreis der Familie. Alle hingen vorm Fernseher und es passierte nicht wirklich etwas. Ich nutzte die Zeit, um mich entspannt auf die Veranda zu setzen und nach Hause zu telefonieren. Als ich so am Telefon hing, bemerkte ich, wie es drinnen immer lauter wurde und ehe ich mich versah, brach ein riesen Streit aus. Ich habe selten Leute so streiten hören und ich sah den Abend leicht auf der Kippe. Da saß ich also, mitten im Busch allein auf einer Veranda mit meinem Bierchen; und das kurz vor Neujahr. Ich nahm die Situation mit einem Schmunzeln zur Kenntnis und wartete, bis der Streit sich legte, was kurz vor Mitternacht tatsächlich der Fall sein sollte. Ich begab mich wieder zur Familie. Um 0:00Uhr sprang ich voller Begeisterung auf und wünschte allen ein frohes neues Jahr, dies wurde aber komplett ignoriert. Ich setzte mich wieder hin, nur um zu sehen, wie die Leute ca. zehn Minuten verzögert total durchdrehten. Sie rannten aus dem Haus, fielen auf die Knie und schrien Gebete Richtung Himmel, denn natürlich ist nur Gott dafür verantwortlich, dass sie es lebend ins neue Jahr geschafft haben. Ich zündete ein-zwei kleine Böller und bei jedem rasteten die Leute aus. Erwachsene Männer sprangen wie kleine Kinder durch die Gegend, sobald es „Bumm“ machte. Ich fand's ganz witzig und machte mir einen kleinen Spaß daraus. Der Grund für diese Verzögerung ist mir bis heute verwehrt geblieben.

Anschließend schlenderten wir ein wenig durch das Dorf und wünschten den Nachbarn ein frohes neues Jahr. Je später es wurde, desto komischer verhielten sich aber die Leute. Überall auf der Straße entfachten kleine Feuer und immer mal wieder kam jemand aus dem Nichts über die Straße gerannt, der laut irgendwelche Psalme aus der Bibel gen Himmel schrie. Gegen halb 2 wurde mir die Atmosphäre doch ein wenig zu abgefahren und ich entschied mich dazu, einfach ins Bett zu gehen. Es war wahrscheinlich alles ganz normal, aber für mich hatte es den Touch eines Horrorfilms.

Mittlerweile befinde ich mich also wieder in Lagos und zwar genau dort, wo alles begann. Tatsächlich sitze ich gerade auf eben jenem Sitzsack, auf dem ich auch den Allerersten Eintrag geschrieben habe. Ich lasse die Dinge Revue passieren und stelle fest, dass es viel zu viel Input war, um es mal eben zu ordnen und zusammenzufassen. Es braucht also eine andere Herangehensweise und genau in diesem Moment fällt mir eine Frage ein, die mir mein Onkel kurz vor meiner Abreise stellte: was willst du dort erreichen, was die Leute nicht auch eigenhändig erreichen könnten? Vor drei Monaten fiel es mir noch schwer, meine Absichten darzulegen, ohne zu wissen, was mich hier überhaupt erwarten würde. Jetzt scheint die Antwort simpel: ohne Hilfe würden diese Menschen genau gar nichts im Leben erreichen. Womöglich würden einige von ihnen nicht mal mehr unter uns weilen (im weiteren Sinne). Aber ich möchte mich gar nicht mal an den materiellen Dingen festhalten. Natürlich gibt es jetzt vor Ort alles, was man braucht, um Unterricht zu gestalten und darauf bin ich auch sehr stolz. Die Essenz meiner Arbeit, was ich auch erst später begreifen sollte, lag aber in etwas ganz Anderem. Sie lag darin, Hoffnung zu geben. Den Kindern zu zeigen, dass es da draußen jemanden gibt, der an sie denkt. Denn so wichtig es auch ist, sie mit Nahrung, Kleidern, Bildung und so weiter zu versorgen, umso wichtiger ist es, ihnen den Glauben an sich selbst zurückzubringen. Als Babys sind wir alle gleich, wir sind naiv, greifen nach den Sternen und glauben, alles erreichen zu können. In unserer Gesellschaft werden die meisten nicht vom Leben auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Hier wiederum verpasst die Realität den Kids bereits in jungen Jahren eine derartige Schelle, von der sie sich den Rest ihres Lebens kaum erholen können. So wird aus vielen perspektivlose Nichtsnutze, die so gerade den Tag überleben. Um es auf den Punkt zu bringen: die Antwort lautet Hoffnung.

Was mich die Erfahrungen hier lehren, ist natürlich unbezahlbar. Viele Dinge werden mich für den Rest meines Lebens prägen. Während meiner Zeit hier habe ich mich in gewissen Situationen immer wieder dabei ertappt, wie ich mir vorstelle, wenn dies genau so in Deutschland der Fall wäre. Lasst mich euch an diesem Gedankenexperiment teilhaben. Entspannt euch, schließt die Augen und stellt euch ernsthaft vor, wie es wäre, wenn die folgenden Dinge auch in eurem Leben zutreffen würden:

Was wäre, wenn..
..das Wasser aus dem Hahn gesundheitliche Schäden hervorrufen kann?
..du nur zwei Stunden am Tag Strom hättest (manchmal mehrere Tage am Stück gar keinen)?
..es kein Müllabfuhrsystem geben würde und sich auf den Straßen meterhohe Müllberge anhäufen würden?
..der Müll auf der Straße verbrannt werden müsste und du kaum atmen kannst, wenn du über den Markt läufst?
..du als Mann nach zwölf Stunden harter Arbeit gerade mal genug verdient hast, um deiner Familie ein bisschen Toastbrot und Reis zu kaufen?
..du als Frau gerade so mehr wert bist, als ein Tier?
..jedes zehnte Kind das Alter von fünf Jahren nie überschreiten wird?
..dein Land eigentlich reich an Rohstoffen ist, du aber keinen Cent davon siehst?
..jeder Mückenstich tödlich sein kann, weil kein Gesundheitssystem existiert?

Das sind nur ein paar der Fragen, die mich oft beschäftigen und auch noch lange nach meiner Rückkehr nach Deutschland beschäftigen werden. Das Gefühl, dass ich die Wahl habe, das alles hinter mir zu lassen und zu meinem Leben in Deutschland zurückzukehren, ist irgendwie surreal.

Naja, genug der Philosophie. Das war’s mit diesem Blog und meiner Zeit in Nigeria. Ich möchte keinen Tag, keine Erfahrung und keine Person missen, aber es ist Zeit zu gehen. Morgen fliege ich rüber nach Dar Es Salaam, Tansania, um von dort aus die Ostküste über den Kilimandscharo bis zum Viktoriasee hoch zu pilgern. Ich danke all meinen Lesern und Leserinnen und den Leuten, die das Projekt unterstützt haben und weiterhin unterstützen. Vielen vielen Dank für all die Spenden, die ihr aufgebracht habt. Ihr habt damit zu etwas ganz Großem beigetragen und es gibt viele Kinder, die euch von ganzem Herzen danken. Um es mit den Worten meiner neuen Freunde auszudrücken: one love!

 

Liebe Grüße nach Deutschland und bis dahin

euer Yannick

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